Wenn sich Matthias plötzlich Matthieu nennt und Frauen auf Madame reagieren ist in Nischwitz Sonnenball / über 300 Gäste feierten
Nischwitz. Schon auf dem Parkplatz zücken die samtberockten Gäste ihre Fotoapparate, lichten sich ab in gezierten Posen, die Perücken zurecht gezupft. Dem Klick folgt ein gar nicht zurückhaltendes Lachen. Bis dahin jedoch bestimmen verhaltener Charme und verschämter Augenaufschlag das Gehabe. Man übt sich für ein Stunden dauerndes Abtauchen ins barocke Zeitalter, welches die Organisatoren des 4. Sonnenballes im Nischwitzer Schloss inspiriert.
Gegrüsst werden die Damen mit gelüpftem Federhut oder huldvollem Nicken. Diese erwidern die Ehrerbietung, indem sie die Reifröcke raffen und sich an einem Knicks versuchen. "Ich hab so meine Schwierigkeiten", gesteht Barbara Schilling. Obwohl die Bad Dübener Kostümverleiherin täglich von historischen Gewändern umgeben ist, erfährt sie, wie sehr man dem schwingenden Kleid Gegenwehr bieten muss. Viele Ideen seien zu bewundern und sofort zeigt sie auf ein älteres Paar. Die beiden erregen die Aufmerksamkeit der meisten der etwa 300 Alltagsflüchter. Sie in altrosé Samt gehüllt - Spitzen, Kordeln, Federn, Glitzer überall. Weiß gepudert, grell hebt sich der rote Mund ab. "Wir kommen aus Berlin", erzählt der in blassgrünes Brokat gewandete E(he)delmann. Selbst genäht haben sie die atemberaubende Robe. Kostümfeste seien ihr Spleen, sogar in Venedig sind die Stelzigs schon gewesen. Nischwitz besuche sie das erste Mal. Neulinge gibt es zahlreich unter den Rokokoperücken. "Doch wir haben auch viele Stammgäste und deshalb gibt es neben den festen Eckpfeilern des Programms, wie der üppigen Speisetafel, dem Hofball oder dem Feuerwerk immer neue Attraktionen", betont Michael Jalinski, Chef der IG Sonnenball, einer Leipziger Interessengemeinschaft.
Kammermusik, Schattentheater und Schauspiel - alles in Blick und Klang vergangener Zeiten - bereichern den Tag. Jalinski, der im wirklichen leben als Chirurg arbeitet, ist wie die sechs weiteren Mitstreiter der IG, unbändig interessiert an den Festgelagen des 17. und 18. Jahrhunderts. Nischwitz, der einstige Sommersitz des Premierministers August des Starken, wurde so zum Domizil eines einzigartigen Kostümfestes. In brütender Hitze flanieren schon nachmittags die herzöglichen Paare durch die Anlagen, machen eine Ausfahrt mit der festlich geschmückten Kutsche oder versuchen sich im Bogenschiessen. Abkühlung verschaffte ein Aufenthalt in den Gemächern. Hier entdecken die Herren den Rauchsalon, in dem feinster Tabak in güldenen Schalen zum Probieren bereitsteht. Tonpfeifen, gegossen nach altertümlichem Rezept, können gekauft werden. Und nachdem die ersten Vanillewölkchen den Raum durchziehen, zeigt sich am Pfeifenkopf wie von Zauberhand die Jahreszahl 2002. "Das ist ein altes Geheimniss", verrät der Leipziger Tabakhändler Lutz Merker.
Dampfendem Genuss ganz anderer Art gibt man sich im Kaffeesalon hin. Leckere süße Häppchen bleiben abends, nachdem alle sich Forelle, Lachs oder in Kräuter-Gemüse gedünsteten Hähnchenbeinen ergeben haben, unbeachtet stehen. Sekt und Wein lockern die Zungen und lassen die Gäste auch im Gespräch ihre Rollen spielen. Mit "Mille Grazie" wird sich bedankt und "..mit eh ruft man keinen Baron, das gewöhnen Sie sich mal ganz schnell ab", rüffelt einer lachend seine Partnerin. Nur der Punk des Kochs macht vor Mitternacht, als das Dunkel auch die letzten unter schwarzen Umhängen hervor blitzenden Turnschuhe versteckt, noch klar, dass alles nur ein tolles Spiel ist.
Cornelia Hanspach
Leipziger Volkszeitung / Muldentalzeitung vom Montag, 29.07.2002