Quo vadis Carnevale di Venezia?

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Für Freunde des 18th Jahrhundert übt der Karneval in Venedig seit jeher eine besondere Anziehung aus. Ich selbst habe in 2001 daran teilgenommen und verfolge die Entwicklung jedes Jahr mit grossem Interesse.

Dieser Tage erreichte mich ein E-Mail mit den neuesten Entwicklungen. Es steht zu befürchten, dass diese farbenfrohe Veranstaltung vor die Hunde geht. Lest das Mail von Jens Kraglund.

Quo vadis Carnevale di Venezia?

Von Jens Kraglund (2008)

Natürlich hat der Venezianischen Karneval eine uralte Tradition. Napoleon verbot ihn, weil ihm nicht geheuer. Erst Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde der „Carnevale“ von der Stadt Venedig und einigen Kunststudenten wiederbelebt. Was wir seit dem als „Carnevale di Venezia“ erleben hat mit dem Treiben zur Zeit der Dogen wenig gemein. Traditionelle Kostüme, wie „Bauta“, „Moretta“, „Pestarzt“ sowie die Figuren der „Comedia dell’ Arte“ sind eher selten vertreten. Was aber den heutigen Carnevale so reizvoll macht, ist der besondere und eigene Stil, der sich in der Lagunenstadt mit ihrem morbiden Charakter und der Erinnerung an glorreiche Zeiten entwickelt hat.

Kostbare Gewänder aus Seide, Samt, Satin und Brokatstoffen, kunstvoll und phantasiereich gestaltet, sind auf der Piazza San Marco, auf der Piazetta und vielen anderen Plätzen Venedigs zu sehen. Schlichte aber perfekte Kostüme stehen neben beeindruckenden „Tüllmonstern“ mit gewaltigem Kopfputz und lassen die Herzen der Touristen und Fotografen höher schlagen. Es ist ein stiller Karneval von eigener Art. Es sind „Verrückte“, Künstler, Individualisten, die sich jedes Jahr erneut Gedanken machen, ein neues Kostüm zu entwerfen und zu nähen, viel Zeit und nicht wenig Geld investieren, um sich und anderen eine Freude zu bereiten. Der Carnevale di Venezia ist ein „internationales Treffen von Exhibitionisten und Voyeuren“ im positivsten Sinne. Die Maskenträger mit ihren prächtigen Kostümen sind es, die die Menschen aus aller Welt in die Serenissima ziehen. Die Stadt Venedig profitiert in hohem Maße davon, das Fremdenverkehrsgeschäft, Gastronomie und Beherbergungsgewerbe machen gutes Geschäft. Die Masken- und Kostümträger gibt es keinerlei Vergünstigung oder Entgegenkommen der Stadt, sie bezahlen ihr Kommen und ihren Aufenthalt wie alle anderen Touristen auch.

Was so hervorragend seit langer Zeit funktioniert, bedarf der Veränderung und Modernisierung, will man mit der Zeit gehen. Dieser Meinung ist jedenfalls der künstlerische Leiter des Carnevale Marco Balich.

Die so oft auf dem Markusplatz aufgebaute „Guckkastenbühne“ alten Stils wurde durch eine kühne Plastikkonstruktion ersetzt, die mit ihrer Transparent-Optik stark an eine Käseglocke erinnerte und für den traditionellen „Volo dell’ Angelo“ (Engelsflug) vom Campanile wurde die sonst übliche junge Schönheit mit wehendem Langhaar kurzerhand aufs Altenteil geschickt.

Marco Balich wählte als Angelo „Einen Farbigen mit turbulenter Vergangenheit“, der die Massen begeistern sollte: den Rapper Coolio, dessen „turbulente Vergangenheit“ darin bestand, 1998 in Böblingen wegen Beihilfe zum Raub und zur Körperverletzung rechtskräftig zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden zu sein. Wird Balich nächstes Jahr einen Triebtäter mit besonders exklusivem Migrationshintergrund wählen, um den Gangsta-Rapper zu toppen? Engel brauchen wir wohl zukünftig nicht mehr …

Die typischen venezianischen Karnevalsmasken mit ihrem oft melancholischen Ausdruck sind Marco Balich auch ein Dorn im Auge gewesen. Es solle ein fröhlicher Carnevale sein, proklamierte er und erklärte die bisherigen Publikumsmagneten zu „personae non grata“, die bei öffentlichen Veranstaltungen unerwünscht seien. Fröhlich endete der Carnevale di Venezia denn auch in der Nacht zum Aschermittwoch: Ein fetziges Rockkonzert in der „Käseglocke“ auf dem Markusplatz vor der Begräbnisbasilika des Heiligen Markus ließ die Luft brennen und die Müllberge wachsen. Teilweise knöchelhoch war der Platz mit zerschlagenen Flaschen, Plastikbechern und Unrat aller Art bedeckt. Der ornamental gestaltete Fußboden des Weltkulturerbes erhielt eine nie da gewesene „Ästhetik“, die in dieser Form bestenfalls nach einem Fußballspiel verfeindeter Vereine in Deutschland beobachtet werden kann.

Dass einige Besucher (vorrangig männliche) die nach reichlichem Alkoholgenuss notwendige Notdurft kurzerhand in die Lagune vor dem Dogenpalast verrichteten, sollte hingegen niemand sonderlich aufregen, leitet Venedig doch seit Urzeiten seine Abwässer in die Lagune. Daran haben an diesem Abend auch die zwei (!) öffentlichen Toiletten auf dem Markusplatz und an der Molo nicht viel ändern können, zumal der Eintrittspreis von € 1,00 lieber in Alkohol investiert wurde. Stärker als der beschriebene Umstand hätten wahrscheinlich mobile Toilettenhäuschen das Weltkulturerbe verschandelt. In der lokalen Presse klagte die Stadt darüber, daß in diesem Jahr sehr wenig Touristen in die Stadt gekommen sind. Auch viele Masken, sonst ständige Besucher, waren zu Haus geblieben. Hatten sie geahnt, was passieren würde?

Nächstes Jahr werden es wohl noch weniger sein. Die Masken, die sich unbeeindruckt auf den Weg nach Venedig begeben, die trotz Verrohung ästhetischer Sitten nicht von ihrem Spiel auf der „schönsten Bühne der Welt“ lassen mögen, werden sich in verschwiegenen Bereichen denen zeigen, die noch eine Empfindung für das Schöne haben. Allen anderen wird der Carnevale di Venezia wie er einst war, verschlossen sein. Mögen sie sich an vorbestraften Engeln, am Unrat auf der Piazza und kreischendem Popmusikbrei im Angesicht der Gebeine von St. Markus erfreuen.

Quo vadis Carnevale di Venezia?

Comments

Tanja Schulz-Hess's picture

Hi aus HH, ich hab grad Euren Eintrag vom Februar gesehen. Ich habe dieses und letztes Jahr in Venedig den 1. Preis auf dem Markusplatz bei der Sfilata "Piu bella maschera" gewonnen und war grad wieder in m,einer zweiten Heimat. Euch wird freuen, dass sich nächstes Jahr einiges ändern soll. Balich und der Bürgermeister haben scheinbar endlich was begriffen. Kein Disco-Carnevale mehr, keine grosse Bühne, stattdessen ein Garten des 18. Jhdt. auf dem Markusplatz und viele kleine, feine Events in des Sestiere. Das geht doch mal in die richtige Richtung. Die Sfilata soll aber weiterhin geben. Mehr infos unter: http://www.carnivalofvenice.com/area.asp?id=4&lang=en Da gibts auch schon das Programm und den offiziellen Flyer (leider nur in Italienisch). Oder fragt mich. Bin grad dabei, einen Brief an Balich und Cacchiari zu schreiben, dass ich die Ideen gut finde und begrüsse.
Schönen Gruss und ci vediamo a Venezia in 2009, Tanja

Bernd's picture

Es ist wirklich schade, dass so eine traditionsreiche und weltbekannte Veranstaltung wie der Karneval in Venedig so dermassen verändert wird. Hier fange ich wirklich an mich zu fragen, was denn so schlecht an dem ursprünglichen Karneval war und warum manche Menschen meinen, immer und Überall mit der Zeit gehen zu müssen. Zwar bestreite ich nicht, dass es in vielen Bereichen durchaus sinnvoll ist, mit der Zeit zu gehen, doch der Karneval in Venedig ist keine traditionsreiche Veranstaltung mehr, wenn all die Traditionen abgeschafft werden.